Speclog

17.03.22

Spekulative Zoologie als Worldbuilding-Tool

Am Beispiel von James Camerons "Avatar – Aufbruch nach Pandora"

Warum haben die Na’vi aus James Cameron’s „Avatar“ von 2009 eigentlich nur vier Gliedmaßen? Schaut man sich die Kreaturen, die die Oberfläche des fiktiven Mondes Pandora bevölkern, einmal genauer an, bemerkt man, dass die Na’vi sich von ihnen in einem grundlegenden Merkmal unterscheiden – sie haben zwei Arme und zwei Beine. Alle anderen heimischen Lebewesen sind Hexapoden, sie haben also sechs Gliedmaßen. Weshalb sind die Na’vi also anders? +
Diese Frage lässt sich auf verschiedene Weisen beantworten. Zunächst liegt es natürlich nahe, davon auszugehen, dass Concept Artist und Head Creature Designer Wayne Douglas Barlowe für die außerirdische Spezies, mit der die Zuschauenden sympathisieren und der Protagonist eine Romanze anfangen soll, eine gestalterische Form zu wählen, mit dem die Zielgruppe – Menschen – besonders leicht sympathisieren kann. Ergo: etwas Menschenähnliches. Jedoch ist dies nicht die einzige Begründung hinter der Design-Entscheidung Barlowes. Paul Frommer, der die Sprache und Kultur der Na’vi entwarf, verweist in diesem Zusammenhang auf die Abstammung der blauen „Katzenmenschen“ von einer dem primatenähnlichen Prolemuris noctis (s. Abb. 1) nahe verwandten Spezies [1], deren vordere zwei Gliedmaßen mit jeweils zwei Zehen mit der Zeit zu einer einzigen, vier-fingerigen Struktur verschmolzen. [2] Ähnliche evolutionsbiologische Entwicklungsgeschichten lassen sich auch zu dutzenden anderen Organismen finden. +
„Spekulative Zoologie“, mit dem Unterordner „Xenobiologie“ [3], nennt sich der Designprozess, der für „Avatar“ weitläufig implementiert wurde. Es ist ein Prozess, der sich auf evolutionsbiologische Konzepte und wissenschaftliche Fakten stützt, um Kreaturen zu erschaffen, die sich auf nachvollziehbare Weise unter den gegebenen Umständen entwickeln würden. Indem man auf Beispiele schaut, die wir von unserer Erde kennen, und bevorteilte sowie benachteiligte Anatomien vergleicht, werden Rückschlüsse darauf gezogen, wie sich andere Kreaturen in ähnlichen Ökosystemen evolvieren würden, um ähnliche ökologische Nischen zu füllen. Anhand fiktiver, spekulativer Beispiele lassen sich somit reale Vorgänge begreifen und auf die Spitze treiben, oder alternative Realitäten erforschen. +
Das Resultat ist ein Universum, das vor Worldbuilding nur so strotzt. Mit etwas Recherche findet man für alles eine schlüssige Erklärung: Der sechsbeinige Vorfahr aller Lebewesen war erfolgreich, da sechs Beine in der reduzierten Schwerkraft von Pandora einen Vorteil in der Fortbewegung brachten. Der sogenannte Thanator (Bestiapanthera ferox) [4], ein löwenähnlicher Fleischfresser, verlor das zweite Augenpaar genau wie die Na’vi, da es zur Tiefenwahrnehmung überflüssig wurde. +
Prolemuris noctis (Cameron, Avatar 2009, 20th Century Fox)
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Prolemuris noctis (Cameron, Avatar 2009, 20th Century Fox)
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Bestiapanthera ferox (Thanator) (Cameron, Avatar 2009, 20th Century Fox)
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Hard Science Fiction als Character Design

Keine einzige dieser Informationen wird im fertigen Film erwähnt. Prolemuris noctis hat weniger als zehn Sekunden Screentime, und die evolutionsbiologische Historie der Na’vi ist für die Handlung des Films absolut irrelevant. +
Es scheint absurd, ein solch hohes Level an Aufwand in ein Projekt zu stecken, dessen volles Ausmaß nur eine kleine Fraktion extrem engagierter Fans wirklich zu Gesicht bekommt. Hunderte Stunden an Recherche, wissenschaftlichen Nachforschungen, illustrativen Studien und Revisionen, von denen nur ein Bruchteil im fertigen Projekt landet. +
Warum sollte man ein Projekt mit spekulativer Zoologie anreichern, wenn man sich den Aufwand auch einfach sparen könnte? Spekulative Zoologie ist ein Designprozess, der ein Projekt ungemein bereichern kann, wenngleich er auch eine sehr hohe Einstiegshürde für Charakter- und Creature-Designer*innen bildet. +

Die Welt von Pandora ist lebendig

Jede Person, die den Film gesehen hat, wird das bestätigen können – man fühlt sich hineingezogen und verbunden mit einer fremden Welt, die sich dennoch vertraut anfühlt. Und auch wenn der Film es den Zuschauenden nicht explizit mitteilt, so lässt sich die reiche Vergangenheit doch aus dem Design von Flora und Fauna erspüren. Wir wissen instinktiv: Diese Welt ist alt. Diese Welt hat Historie. Diese Welt fühlt sich echt an. +
Im Designprozess von Spekulativer Zoologie geht es um das Erkennen und Replizieren von Mustern, die wir aus unserer eigenen Geschichte kennen. Evolutionsbiologische Prozesse finden seit Millionen von Jahren auf unserem Planeten statt und haben unsere Umwelt sowie uns als Menschen geformt. Wir sprechen die Sprache der Natur, weil wir Teil von ihr sind – nach vorne zeigende Augen und spitze Reißzähne machen ein Raubtier aus, eine Gefahr; große Augen und runde Gesichter erinnern uns an unseren eigenen Nachwuchs und erzeugen Sympathie. Diese instinktive Mustererkennung hilft uns, trotz aller Fremdartigkeit eine tiefe Verbindung zu Gestaltungsformen aufzubauen, die sonst abstoßend oder erschreckend wirken könnten. +
Wäre es auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse evolutionstechnisch unwahrscheinlich, dass die Na’vi so menschenähnlich aussehen? Bestimmt. Bietet ihr Charakterdesign jedoch einen idealen Querschnitt zwischen Anmutungsformen, mit denen Menschen sich leicht identifizieren können, und einer spekulativen Entwicklungsgeschichte, die der inneren Logik und dem Worldbuilding des Universums treu bleibt? Definitiv. +
Und seien wir ehrlich, hätte Jake Sully auf der großen Leinwand mit einem sechs-beinigen, vier-äugigen Wesen mit Antennen herumgemacht, wäre das zwar bahnbrechend und hochinteressant gewesen, hätte dem Film wahrscheinlich jedoch wesentlich weniger Erfolg gebracht. +
Spekulative Zoologie als Worldbuilding- und Designtool erlebt gerade eine zweite Renaissance im Internet – auf Reddit, Youtube, Tumblr und in persönlichen Blogs werden Bücher wie „After Man“ von Dougal Dixon und „All Tomorrows“ von C. M. Kösemen, die das Konzept schon 1981 und 2006 ins Auge der Öffentlichkeit rückten, wieder rege diskutiert, und bieten den Nährboden für Erzählformen und Darstellungsweisen an den Schnittstellen zu Illustrationen, Literatur, Film oder Videogames. Ben G. Thomas bezeichnet Spekulative Evolution als „science-based art form“ (Thomas 2019), die sowohl für Entertainment als auch Bildung genutzt werden kann. +

Epistemische Bildwelten

Visualisierungsformen wie die der spekulativen Zoologie nehmen in der Wissensproduktion im Gestaltungskontext eine besondere Rolle ein. Die Fragen, welche Visualisierungen neues Wissen produzieren, welche nur altes Wissen reproduzieren, und welche Erkenntnisleistung von damit verbundenen Bildwelten ausgeht, ist für den Diskurs dies- und jenseits einer Designwissenschaft von Bedeutung. Man kann nicht nur aus wirklichkeitsgetreuen, abbildenden Bildern, sondern auch aus spekulativen Bildern eine (wissenschaftliche) Erkenntnis gewinnen (vgl. Bieling 2020), indem sie – in den Worten von Medienwissenschaftler Rolf Nohr – auf „spezifische Weise als wahr“ verstanden werden (Nohr 2014). Dabei können sie helfen, bestimmte Sachverhalte und Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen – oder wenigstens zu imaginieren. +

Simon Keller +
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[1] Vgl. Wilhelm & Mathison 2009, ein von den Macher*innen herausgegebenes Buch mit allerhand Illustrationen und Trivia zum Worldbuilding und der internen Logik des Films, sowie diverse Blogs von Barlowe selbst. +
[2] siehe Abb. 2 +
[3] von griech. xenos (ξενος) = fremd; Xenobiologie beschäftigt sich speziell mit außerirdischen Organismen +
[4] siehe Abb. 3 +

Abbildungen

Abb. 1: Prolemuris noctis, https://i.pinimg.com/originals/57/60/b7/5760b7bb8c330af64983e7aea5fa8fa6.jpg +
Abb. 2: Prolemuris noctis, https://static.wikia.nocookie.net/jamescameronsavatar/images/7/7f/Prolemuris_Profil.jpg/revision/latest?cb=20100116171751&path-prefix=de +
Abb. 3: Bestiapanthera ferox (Thanator), https://static.wikia.nocookie.net/jamescameronsavatar/images/2/2c/Thanator.png/revision/latest?cb=20100425182858&path-prefix=de +

Quellen

Avatar Wiki: https://james-camerons-avatar.fandom.com/wiki/Avatar_Wiki [03.07.2021] +
Barlowe, Wayne: https://waynebarlowe.com/ [03.07.2021] +
Bieling, Tom (2020): Design zwischen Fakt und Fiktion – Epistemische Bildwelten zwischen Visualisierung und Wissensproduktion. Vortrag, Wien. +
Dixon, Dougal(1981): After Man. A Zoology of the Future. Saint Martin's Griffin. +
Frommer, Paul, „Ziva’u nìprrte’ fte nivume!“, Blog: http://naviteri.org/ [03.07.2021] +
Kösemen, C. M. (2006): All Tomorrows: A Billion Year Chronicle of the Myriad Species and Mixed Fortunes of Man. +
Nohr, Rolf F. (2014): Nützliche Bilder. Bild, Diskurs, Evidenz. Lit Verlag. +
Pandorapedia – The Official Field Guide: https://www.pandorapedia.com/pandora_url/dictionary.html [03.07.2021] +
Thomas, Ben G.: „The History of Speculative Zoology – Part 1”, 2019, Youtube, https://www.youtube.com/watch?v=9_but6TP_CY [19.06.21] +
Thomas, Ben G.: „The History of Speculative Zoology – Part 2”, 2019, Youtube, https://www.youtube.com/watch?v=w9hOcQzxpqU [19.06.21] +
Trey the Explainer, „The Biology of James Cameron’s Avatar“, 2019, Youtube, https://www.youtube.com/watch?v=Hm1JFLpkofs [03.07.2021] +
Wilhelm, Maria & Dirk Mathison (2009): Avatar - A Confidential Report On The Biological and Social History Of Pandora - An Activist Survival Guide. Harper Collins +
Wikipedia, „Paul Frommer“: https://en.wikipedia.org/wiki/Paul_Frommer [03.07.21] +
Wikipedia, „Speculative Evolution“: https://en.wikipedia.org/wiki/Speculative_evolution [04.07.21] +
Wikipedia, „Wayne Barlowe“: https://en.wikipedia.org/wiki/Wayne_Barlowe [03.07.21] +
  1. Der Gastbeitrag von Simon Keller basiert auf einer im Seminar "Designwissenschaft" (Leitung: Dr. Tom Bieling, "DESIGN SCHAFFT WISSEN – WISSEN SCHAFTFT DESIGN", Sommersemester 2021, HAWK Hildesheim) entstandenen Arbeit.